Es ist vollbracht: Mit der VDI/VDE 3714 gibt es nun die erste Richtlinie für Big-Data-Anwendungen. Was diese kann und welche Einsatzgebiete Sie verbindet, haben wir im Interview mit dem VDI-Ausschussvorsitzenden Thomas Froese genauer herausgefunden.
Seit 2011 kursiert der Begriff Industrie 4.0 mal mehr als Zukunftsvision, mal als konkretes Umsetzungsszenario durch die Produktionsstätten der Gegenwart. Alle damit verbundenen Visionen – vom digitalen Zwilling und Softsensoren bis hin zur vorausschauenden Wartung – vereint trotzdem eine gemeinsame Basis: Daten. Was es nun braucht, um sich den Weg durch umfangreiche und komplexe Datenstrukturen hin zu einer fundierten Entscheidungsgrundlage für Produktionsprozesse zu bahnen, weiß Thomas Froese (TF). Wir (CF) haben den Diplom-Chemie-Ingenieur und Geschäftsführer der atlan-tec Systems GmbH zum Interview getroffen und sprachen mit ihm über Big Data, die neue VDI-Richtlinie (VDI/VDE 3714, an dessen Entstehung er mitgewirkt hat) und nahende gemeinsame Weiterbildungsprojekte.
Unser Interview-Gast Thomas Froese und sein Bezug zum Thema
CF: Guten Tag Herr Froese, bitte stellen Sie sich kurz vor.
TF: Hallo, mein Name ist Thomas Froese und ich bin Dipl. Chemie-Ingenieur und habe ein ausgeprägtes Faible für KI und datengetriebene Optimierungen von Produktionsprozessen im Speziellen. Deshalb habe ich 1994 auch eine eigene Firma gegründet. Es war mir von Anfang an ein großes Anliegen, nicht nur KI-Anwendungen zu entwickeln, sondern auch die Entwicklung von Industrie 4.0 in Deutschland mit voranzutreiben.
Diese Möglichkeit nehme ich als Mitglied in verschiedenen Fachbeiräten und Richtlinienausschüssen wahr – einige davon leite ich als Vorsitzender. Dazu gehört der Fachausschuss FA3.33 „Big Data“ der VDI-Gesellschaft für Mess- und Automatisierungstechnik, in dem wir die Richtlinienreihe VDI/VDE 3714 in einem großartigen Experten-Team entwickelt haben.
Diese Richtlinienreihe definiert ein strukturiertes und standardisiertes Vorgehen für die Implementierung und den Betrieb von Big-Data-Anwendungen in der produzierenden Industrie. Warum ist das so wichtig? Zum einen, weil fehlende Voraussetzungen und ein unsystematisches Vorgehen bei Big Data-Projekten oft zum Scheitern führen. Zum anderen sind fehlende Normen und Standards zur digitalen Transformation in der deutschen Prozessindustrie eine große Einstiegshürde für viele Unternehmen – insbesondere den Mittelstand. Dem wirken wir mit der Richtlinie VDI/VDE 3714 und einer dazugehörigen Schulungsrichtlinie (VDI/VDE 3714 MT (Mensch und Technik)) entgegen.
Die Zielsetzung hinter der Richtlinie: Von Mindestqualität bis Prozesserleichterung
CF: Bitte erklären Sie uns die Ziele der VDI/VDE3714 und VDI/VDE 3714 MT?
TF: Sehr gerne!
Zur Richtlinie VDI/VDI 3714: Der VDI hat die Aufgabe, technische Prozesse zu begleiten. Daher war es naheliegend, dass wir die VDI/VDE 3714 auf Big-Data-Anwendungen für die produzierende Industrie konkretisieren. Das Ziel dieser Richtlinie ist es, eine Mindestqualität der Anwendungen sicherzustellen und den Entwicklungs- und Implementierungsprozess so weit zu definieren, wie es für einen sicheren Betrieb notwendig ist.
Zur Richtlinie VDI/VDE 3714 MT: Damit die Verantwortlichen ein Big-Data-Projekt optimal durchführen und unterstützen können, haben wir passend zur Richtlinie VDI/VDE 3714 die Schulungsrichtlinie die VDI/VDE 3714 MT entwickelt. MT steht dabei für die Zusammenarbeitzwischen Mensch und Technik. Die VDI/VDE 3714 MT definiert die Inhalte und den Ausbildungslehrplan für vier aufeinander aufbauende Stufen: den Big Data Practitioner, den Big Data Engineer, den Big Data Manager, und den Big Data Business Manager. Teilnehmende der Ausbildungsstufen können anschließend auf Basis ihrer Weiterbildung in Big Data Projekten nach der Richtlinie VDI/VDE 3714 in ihrer jeweiligen Rolle mitarbeiten und das Projekt zum Erfolg führen.
CF: Welche Perspektive bringen Sie zu diesem Thema mit ein?
TF: Eine sehr praxis- und industrienahe Perspektive, die auf Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit achtet und die immer das Kosten- Nutzen-Verhältnis im Blick behält.
CF: Das klingt sehr vernünftig. Können Sie uns kurz zusammenfassen für wen die neue Richtlinie interessant und relevant ist?
TF: Aber sicher! Die Richtlinie richtet sich sowohl an die Anwender wie auch an Entwickler von Big Data-Lösungen. Auf allen Ebenen im Unternehmen wird eine verlässliche Orientierung gegeben.
Die Richtlinie unterstützt bei der Vorbereitung, Entwicklung, Inbetriebnahme und dem nachhaltigen und sicheren Betrieb von Big-Data-Anwendungen.
Big-Data-Anwendungen in der Praxis
CF: Um es noch etwas anschaulicher zu machen: Haben Sie Beispiele für typische Big Data Anwendungen?
TF: Big-Data-Anwendungen in unserem Sinne umfassen Systeme für vorbeugende Wartung, Softsensoren, Prädiktoren oder Prozessoptimierung in Echtzeit. Diese Systeme ermöglichen z.B. eine zerstörungsfreie 100 % Qualitätskontrolle oder KI-gestützte Handlungsempfehlungen bei der Parameter-, Prozess- und Maschineneinstellung.
Ein konkretes Beispiel: In einem ehemaligen Tochterunternehmen haben wir über die Hälfte der größeren Kläranlagen in Deutschland modelliert und optimiert. So konnten die Anlagen bis zu 30 % einsparen.
Ein weiteres Beispiel aus der Kunststoffindustrie: Polypropylen- und Polyethylen-Anlagen sparen bis zu 8 % der Rohstoffe und Energie, da sie ihren Ausschuss mit Hilfe von Big-Data-Anwendungen entscheidend reduzieren konnten.
Aufbau und Gliederung der Richtlinie
CF: Das klingt ja hervorragend! Danke für das Beispiel. Zurück zur neuen Richtlinie: Welche inhaltlichen Schwerpunkte umfasst die Richtlinie VDI/VDI 3714, wie gliedert Sie sich?
TF: In der Richtlinie werden Technologien (Big-Data-Anwendungen) zur Datenanalyse von umfangreichen und komplexen Daten aus Produktionsprozessen beschrieben. Die Richtlinie gibt eine Orientierung, welche Maßnahmen für den Einsatz von Big-Data erforderlich sind und zeigt auf, welche Methoden für eine zielführende Arbeit geeignet sind bzw. welche Einschränkungen und Hindernisse bestehen. So entstehen verlässlichere Entscheidungsgrundlagen, um Produkte und Produktionsprozesse ökonomisch, ökologisch und technisch zu verbessern.
Die Richtlinie betrachtet anhand der generellen Phasen organisatorischer Prozessmodelle die Planung, Durchführung und die langfristige Sicherung der Nutzung der Big-Data-Anwendung.
Blatt 1 ist sozusagen das übergreifende „Kochrezept“ und beschreibt, die Vorgehensweise. Die Blätter 2 bis 6 vertiefen einzelne Aspekte des Know-hows und das Blatt 7 beschreibt das Vorgehen und die Rahmenbedingungen beim praktischen Einsatz der Methoden.
Damit ergibt sich die folgende Richtlinienreihe:
- Blatt 1 Durchführung von Big-Data-Projekten
- Blatt 2 Datenqualität
- Blatt 3 Datenbewirtschaftung
- Blatt 4 Analyseverfahrensklassen
- Blatt 5 Modellierungsverfahren
- Blatt 6 Validierung von Modellen
- Blatt 7 Online-Anwendung von datengetriebenen Modellen)
CF: Warum ist die Richtlinie gerade jetzt wichtig und welche Neuerung bringt sie mit sich?
TF:
Die Prozessindustrie steht vor nie dagewesenen Herausforderungen. Nur eine rasche Digitalisierung und Big-Data-Anwendungen im Kleinen wie im Großen können den Unternehmen helfen, in Zukunft agil, resilient und nachhaltig zu wirtschaften.
Die Herausforderung bei neuen Technologien wie Big-Data-Anwendungen ist jedoch, dass es zunächst keine definierten regulatorischen Anforderungen und keine standardisierte Vorgehensweise gibt. Dies birgt erhebliche technische Risiken und kann zu hohen Folgekosten und unzureichenden Lösungen führen. Letztlich leidet das Ansehen dieser neuen Technologien. Es gab aber auch keine klaren Richtlinien, an denen sich Unternehmen orientieren konnten. Dies führte zu Einstiegshürden für viele Unternehmen, die lieber auf die Digitalisierung verzichteten, weil der Aufwand größer erschien als der Nutzen.
Angesichts des geringen Industrie 4.0-Reifegrades vieler Unternehmen in Deutschland war es dringend erforderlich, eine Orientierung über notwendige Maßnahmen sowie konkrete Methoden und Lösungswege zu definieren. Mit der VDI/VDE 3714 liegt nun die erste Richtlinie dieser Art im Kontext der Planung, Implementierung sowie der nachhaltigen und sicheren Nutzung von Big Data-Anwendungen in der Prozessindustrie vor. Darüber hinaus wurden zertifizierbare Lösungen und ein einheitlicher Standard gefordert. Alle Big-Data-Projekte, die den genauen Vorgaben der Richtlinie folgen, können von externen Zertifizierungsstellen zertifiziert werden. Das bedeutet mehr Sicherheit, Rechtskonformität und technische Compliance.
Letztlich soll die Richtlinie VDI/VDE 3714 den Unternehmen in Deutschland eine verlässliche Orientierung auf ihrem Weg entlang aller Reifegradstufen von Industrie 4.0 bieten.
Weiterbildung: Wie kann ich aus unterschiedlichen Perspektiven beim Anwenden der Richtlinie unterstützt werden?
CF: Welche Rolle spielen Sie bei der geplanten Weiterbildungsoffensive zu dieser Richtlinie?
TF: Um das Wissen aus dieser Richtlinie zu verbreiten, hat der VDI mit dem Campus Forum und dem TÜV-SÜD eine Schulungsrichtlinie entwickelt: die VDI3714MT, wobei MT wie vorhin erwähnt für „Mensch-Technik“ steht. Die Richtlinie VDI/VDE 3714MT beschreibt vier spezifische und zertifizierte Ausbildungskurse für verschiedene Unternehmensebenen vom Management bis hin zu den Maschinenbedienenden. Ziel dieser Weiterbildungsangebote ist es, direkt anwendbares und praxisnahes Wissen zu vermitteln, um mit Hilfe der digitalen Methoden aus der Richtlinie VDI/VDE 3714 die Effizienz und die Nachhaltigkeit von Unternehmen deutlich zu verbessern. Wir haben ein Team aus Mitgliedern des VDI-Ausschusses und anderen Experten zusammengestellt, um diese Inhalte zu transportieren. Dabei übernehme ich selbst die Rolle des Koordinators, um sicherzustellen, dass das Konzept der Richtlinie auch in anwendungsnaher Weise transportiert wird.
CF: Warum sollte ich mich zu diesem Thema weiterbilden? Was haben die geplanten Weiterbildungen zu bieten (z.B. der RWTH Aachen Campus Big Data Business Manager) und was ist daran reizvoll?
TF: Eine VDI/VDE 3714 MT-Schulung ist ratsam, wenn Unternehmen mit dem Gedanken spielen eine Big-Data-Anwendung zu entwickeln oder in Ihrem Produktionsprozess zu implementieren, aber noch nicht genau wissen, wie sie ein solches Projekt effektiv durchführen können.
Die Durchführung eines Big–Data-Projekts und die Implementierung einer Big–Data–Anwendung in einen Produktionsprozess betrifft nicht nur den Betriebsleiter. Vom Shopfloor bis zur Entscheidungsebene erstrecken sich unterschiedliche Verantwortungsbereiche und Aufgaben, die alle essenziell für eine erfolgreiche Durchführung sind. So sind beispielsweise die Aktivitäten auf dem Shopfloor entscheidend für die Datenqualität. Wenn diese nicht stimmt, liefert die Big–Data–Anwendung falsche Ergebnisse und es wird Ausschuss produziert. Es ist also eine sehr verantwortungsvolle Rolle. Durch die Einbeziehung der verschiedenen Ebenen wird das gesamte Projekt-Team qualifiziert, um Big–Data–Anwendungen erfolgreich zu implementieren.
Durch die vermittelte Expertise können Projekte auch „technisch compliant“ umgesetzt werden. Misserfolge oder hohe Folgekosten können ebenfalls vermieden werden.
Die Weiterbildungen befähigen die verschiedene Ebenen des Unternehmens machinelles Lernen und Big-Data-Methoden effizient anzuwenden und zu nutzen.
Der Big Data Business Manager lernt vor allem verschiedene Lösungswege am Markt kennen. Er wird auch darin geschult, den Nutzen und die Kosten einer Big-Data-Lösung zu kalkulieren und zu bewerten. Zudem weiß er welche Rahmenbedingungen das Management schaffen muss, damit diese erfolgreich eingesetzt werden können. Er lernt auch die richtigen Vorgaben zu machen, um Projekte von der obersten Ebene aus erfolgreich zu steuern. Außerdem wird diese Weiterbildung aus Zertifikatkurs umgesetzt, bei dem die neu erworbenen Kompetenzen durch ein RWTH Aachen Campus Zertifikat sowie eine VDI-Urkunde bescheinigt werden.
Der Big Data Manager lernt im Detail die Steuerung der technischen Umsetzung. Der Big Data Engineer lernt Werkzeuge und Methoden praktisch kennen. Der Practitioner lernt den Nutzen der Projekte aus Sicht des Maschinenbedieners bzw. Operators kennen und kann dadurch optimal bei einem Big-Data-Projekt unterstützen..
CF: Das klingt ja nach hervorragenden Vorhaben für das neue Jahr. Haben Sie vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Antworten. Wir freuen uns auf die gemeinsame Projektumsetzung 2023.
TF: Wir uns auch! Vielen Dank.